Im Jahre 496 kämpfte der Frankenkönig Chlodwig gegen das germanische Brudervolk der Alemannen. Der Kampf tobte lange unentschieden, und die Franken mußten eine Niederlage befürchten. Chrodechilde, die Gemahlin des heidnischen Frankenkönigs, war eine Christin. Während der Schlacht redete sie auf den König ein, er müsse zum Christentum übertreten, wenn er siegen wollte. Chlodwig versprach, sich taufen zu lassen, und dann wendete sich das Kriegsglück auf seine Seite.
Ein Jahr nach dem siegreichen Kampf wurde der König in Reims durch Bischof Remigius getauft. Aus Dankbarkeit vermachte der König dem Bischof große Ländereien, darunter auch ein weites Gebiet zwischen Nahe und Glan, das fortan als "Remigiusland" bekannt wurde. Aus den frühen Tagen dieses Remigiuslandes wird folgende Geschichte erzählt
Im Coslatal, in dem Tal des Kuselbachs, lebten freie alemannische Bauern. Sie wurden von Franken bedrängt, die weiter nördlich im Tal der Nahe siedelten. Einer der allemannischen Bauern war Gundobald, der edle Herr aus dem Coslatal. Ach er lebte wie die anderen Alemannen ständig in der Furcht, daß ihn die Franken von seinem Besitz verjagten. Emich, der Graf im fränkischen Nahegau, sandte Boten und Priester in das Coslatal und forderte die Alemannen auf, sich zur Lehre Christi zu bekennen, wenn sie weiter als freie Bauern unter den Franken leben wollten.
Aber die Bauern weigerten sich. Sie wollten sich weder dem Christengott noch den Franken beugen. Als einmal Graf Emich mit seinem großen Gefolge durch das Coslatal kam, rastete er bei dem Haus des Gundobald und ließ sich und alle seine Knechte bewirten. Gundobald selbst hielt sich grollend im Hintergrund seines Hauses, und Edwige, seine Tochter, mußte dem Grafen Speise und Trank auftragen. Die Begegnung des Grafen mit der Tochter Gundobalds blieb nicht ohne Folgen. Wochen später schickte Emich aus seinem Sitz im Nahegau Boten zu Gundobald und bat um die Hand der Tochter. Dieses Angebot der mächtigen Nahegaugrafen ehrte Gundobald, und auch Edwige konnte sich eigentlich darüber glücklich preisen, daß sie die Herrin im Nahegau werden sollte. Doch die Heirat mit Emich sollte vor einem christlichen Priester vollzogen werden, und deswegen wurden Gundobald und Edwige nicht froh über den Antrag. Gundobald gemahnte schließlich seine Tochter, sie möge sich in das Schicksal finden und in den Nahegau gehen. Für die hohe Stellung könne sie sich getrost dem Christengott unterwerfen. Auch für die Bauern im Tal wäre die Heirat von großem Vorteil. Sie brauchten nicht länger zu befürchten, daß sie von den Franken vertrieben würden.
Edwige zeigte sich aber starrsinnig. Sie kannte den Glauben der Christen. Im Hause hatten sie einen Knecht mir Namen Gajus, einen Abkömmling der einstigen Herren im Lande, von deren prächtigen Häusern noch immer die Ruinen ringsum im Lande ein Zeugnis gaben. Dieser Gajus hing dem christlichen Glauben an. In den vergangenen Jahren hatte er oft versucht, das Mädchen des Gundobald von der Lehre Christi zu überzeugen.
Edwige widerstrebte zornigen Sinnes. Der Christengott ist feige, sagte sie. Er fordert von unseren Männern, daß sie den Speer aus der Hand legen und wie Sklaven weiterleben. Wiewohl sie wußte, daß auch der mächtige Frankenkönig ein Christ geworden war, ohne den Speer aus der Hand zu legen, daß auch ihr Freier aus dem Nahegau trotz seines Christentums nicht gerade ein friedlicher Mann geworden war, haßte sie die Christen noch immer, und sie wollte lieber sterben, als vor einem christlichen Priester dem Grafen angetraut zu werden.
Emich schickte aber immer neue Boten, und Gundobald drängte seine Tochter, sie möge dem Werben endlich nachgeben. So wußte das Mädchen bald nicht mehr, wem sie die Treue halten sollte, dem Vater oder den alten Gottheiten ihres Volkes, dem kriegsmächtigen Wotan, dem Donar, der durch die Wolken zog und der zauberkundigen Freia. In diesem Zwiespalt verließ Edwige schließlich das Haus ihrer Eltern und zog hinaus in den dunklen Wald der zerklüfteten Berge.
Gundobald wartete tagelang darauf, daß die Tochter wieder zurückkehren würde. Als diese Hoffnung sich nicht erfüllte, zog er mit seinen Knechten hinaus in das dunkle Dickicht, um die Tochter zu suchen. Unheimlich war der Wald. Der Wolf zog sich in das undurchdringliche Gebüsch zurück. In den tiefen Schluchten hatte der wilde Bär seine Heimat. In den Höhlen versteckten sich Waldgeister und Zwerge.
In einem der dunklen Abgründe hauste eine unheilvolle Wildfrau. Von ihr erzählten die Menschen im Coslatal merkwürdige Dinge. Sie sei eine Druidin und entstamme dem alten Volk der Kelten. Eine Zauberfrau sei sie, ginge im Gewand der Tiere umher, raube Kinder und Jungfrauen, um sie auf einem steinernen Altar den Göttern zu opfern. Die Gebeine der Opfer seien in der Höhle der Druidin aufgehäuft.
Je weiter Gundobald mit seinen Knechten in den dunklen Wald vordrang, desto näher kam er dem Bereich der Wildfrau. Die Knechte wurden von Angst und Schrecken erfaßt, weigerten sich schließlich, noch tiefer in den Wald vorzudringen. Die Schreie der Tiere deuteten sie als die Rufe der Wildfrau, das Raunen in den Zweigen als ihr Heulen. Auch Gundobald selbst wurde schließlich von der Furcht ergriffen, und er glaubte nicht mehr daran, daß seine Tochter noch am Leben sei. Gewiß hatte sie die Wildfrau schon auf ihrem Altar den Göttern geopfert.
Ein Mann unter der Schar des Gundobald verlor die Hoffnung nicht und wurde auch nicht von der Angst ergriffen. Das war Gajus, der alte Römersklave. Als Gundobald schließlich in der größten Furcht beschloß, wieder in sein sicheres Haus am Coslabach zurückzukehren, wollte Gajus allein im Wald zurückbleiben. Er fürchtete die Druidenfrau nicht, glaubte nicht an ihre Zaubermacht und lachte über den Glauben an Waldgeister und Zwerge. Nur Christus kann deine Tochter retten, sagte Gajus zu Gundobald. Christus ist der Herr über unser aller Leben, und er wird auch über das Leben deiner Tochter wachen.
Der Edle aus dem Coslatal ließ sich nicht überreden. Auch dein Christengott kann keine Toten erwecken, sagte Gundobald zu Gajus. Wenn er das könnte, dann wäre ich selbst längst ein Christ geworden. Darauf ließ er erbittert Gajus im dunklen Wald zurück und trat mit den anderen Knech ten den Heimweg an. Er war entschlossen, sich bald selbst das Leben zu nehmen.Gajus kam zu einer tiefen, dunklen Schlucht und glaubte, daß dort unten die keltische Wildfrau zu Hause sei. Er hörte einen lauten Schrei, der niemals der Schrei eines Tieres sein konnte. So fand der Knecht Gewißheit. Er hoffte, daß die Tochter seines Herrn noch am Leben war. Bevor er aber weiter hinunter in die Schlucht ging, kniete er vor einem Baum nieder um zu beten. Gott möge ihm auf dem schweren Gang beistehen. Er möge Edwigens Leben bewahren, möge alle Zauberkraft von der wilden Frau nehmen.
Als er sich wieder aufrichtete, kam von der Höhe herab der Schall eines Jagdhornes. Fremde Jäger waren einem Hirsch in die dunkelsten Gründe des Waldes gefolgt. Gajus erkannte in den fremden Männern seine Helfer, die Gott ihm geschickt hatte.
Zuerst waren die Jäger erbost, als sie Gajus sahen, der ihnen das Wildbret verscheucht hatte. Dann kam der Herr der Jägerschar herbei. Emich war es, der Graf aus dem Nahegau, der um Edwige freite.Gajus erzählte dem Grafen von der großen Not, die auf dem Hofe Gundobalds eingezogen war. Und er erzählte, daß er Edwige in der Tiefe des Tales als die Gefangene der Druidenfrau vermutete. Emich säumte nicht lange. Er stürzte hinunter in die Schlucht, suchte ein edleres Wild als den Hirsch, der davongelaufen war. Alle seine Jäger folgten ihm.
Emich fand die Wildfrau in der Tiefe der Schlucht. In das Fell eines Wolfes gehüllt kam sie dem Grafen entgegen und beugte sich jammervoll vor ihm nieder, winselte um Gnade. In seiner Wut hörte Emich das Flehen nicht. Er stieß das Weib mit seiner Lanze nieder. Im Sterben sprach die Wildfrau von der Rache, die sie an allen den Menschen genommen hatte, die ihr Volk aus dem Coslatal vertrieben hatten.
Emich fand Edwige am steinernen Altar der Wildfrau. Die junge Frau war gefesselt und hatte auf den Tod gewartet, auf den Opfertod für die falsche Gottheit. Emich riß die Fesseln los. Edwige sah, daß sie nur durch Christi Hilfe gerettet worden war und zeigte sich bereit, dem Grafen als Christin und als Ehefrau zu folgen.
Auch auf den Höfen Bauern im Coslatal kehrte die Freude wieder ein. Zusammen mit den anderen Freibauern ließ sich Gundobald taufen. Sein Geschlecht lebte noch lange im Coslatal.